Wenn vom Balsamicoessig die Rede ist, denkt man unweigerlich an den
bräunlichen Essig mit dem leicht süsslichen Aroma. Der echte
Balsamico aber, der "Tradizionale", ist ganz anders: ein
unvergessliches Geschmackserlebnis.
Wer beim Aceto balsamico Tradizionale di Modena von Essig zu sprechen
wagt, erntet [...] verständnislose Blicke [...]. Denn beim
Tradizionale darf man nicht mehr von Essig sprechen. Sein Geschmack
pulsiert im Mund, er trägt den süss-säuerlichen Duft von
Kastanien, von Kirsch- oder von Wacholderholz, die stockfinstere
Farbe von Bitterschokolade, die weiche und samtene Konsistenz dick
eingekochten Sirups, den unendlich langen Abgang besten Burgunders...
Der Tradizionale ist Höhepunkt und uneingeschränkte Krönung aller
Balsamicos, und er ist in absolut nichts vergleichbar mit dem, was
seit dem Balsamicoboom der letzten Jahre hektoliterweise über den
Markt geschwemmt und normalerweise industriell mit Malz und Caramel
gesüsst wird. Denn im Tradizionale stecken Passion,
jahrzehntelanges, geduldiges Reifenlassen und viele Geheimnisse.
Zum Beispiel die speziell für die Balsamicoherstellung kultivierten
Trebbiano- und Lambruscotrauben aus den Hügeln um Modena, die im
Herbst so spät wie möglich geerntet werden, damit sie möglichst
viel Sonnenwärme und Zuckersüsse speichern können. Sie werden
abgepreßt, ihr Most auf offenem Feuer bei einer Temperatur von 80
bis 90 Grad auf einen Drittel des Volumens eingekocht und in
Glasbehältern an der winterlichen Kälte natürlich geklärt. Für
diesen "mosto cotto" beginnt nun die lange und dunkle Zeit des
Gärens und Reifens in 5 bis 8 verschiedenen Holzfässchen von
abnehmendem Fassungsvermögen, der sogenannten "Batterie". Diese kann
zum Beispiel aus Eichen- (60 Liter Inhalt), Kastanien- (50 l),
Kirschen- (40 l), Eschen- (30 l), Wacholder- (25 l) und
Maulbeerholzfässchen (15 l) zusammengesetzt sein. Die Fässer sind
der wahre Anlagewert der Tradizionale-Hersteller. Sie können mehrere
hundert Jahre alt sein und geben dem Extrakt ihr natürliches Aroma.
Für die Konzentratbildung durch Verdunstung sind die jahreszeitlichen
Temperaturunterschiede sehr wichtig, darum befinden sich die
"Batterien" der Essighersteller in der Regel im Dachgeschoss der
Häuser. In Modena sind etwa 1000 Familien mit der Essigherstellung
beschäftigt. Winter für Winter wird - ähnlich wie beim
Solera-Verfahren in der Sherryherstellung - ein Teil des Inhalts in
das nächstkleinere Fässchen gegeben; dieser gewinnt dadurch an
Konzentration und Duft, verliert aber auch massiv an Volumen; so
bleibt aus anfänglich 75 kg Trauben 1 kg Tradizionale übrig. Was
auch den hohen Preis für die Elixiere erklärt - 1 dl junger,
15jähriger "Affinato" kostet um die 72 Franken, ein "Extra Vecchio"
mit über 25 Jahren auf dem "Buckel" schon 135 Franken, und für die
uralten Spitzensäfte werden bis 500 oder 600 Franken geboten, falls
sie überhaupt noch käuflich sind.
Doch wann und ob überhaupt die edlen Säfte in das bauchige
1-dl-Designerfläschchen mit dem rechteckigen Sockel abgefüllt und
mit dem charakteristischen Siegel versehen werden, entscheidet ein
strenges Konsortium, das Consorzio Produttori Aceto Balsamico
Tradizionale di Modena, das Jahr für Jahr rund 1000 Tradizionale
bewertet. Und nur 20 "Acetai", gelernte Essigmacher, können den
echten Aceto balsamico Tradizionale di Modena verkaufen, weltweit
sind dies jährlich rund 20000 Fläschchen.