Claus Schweitzer Meyers Modeblatt 33/98 Erfasst von Rene Gagnaux
Zur Tapas-Kultur in Spanien gehoert in erster Linie die Bereitschaft,
sich an eine Theke zu lehnen und bei einem kleinen Imbiss und einem
Glas Sherry die Zeit aus dem Auge zu verlieren.
Tapas haben in Spanien ihren festen Platz im taeglichen Speiseplan,
der von den Spaniern sehr ernst genommen wird. Die kleinen Gerichte,
von denen es Hunderte gibt, sind Ausdruck eines Lebensstils, der
Geselligkeit und Abwechslung liebt. Tapeo - Tapas essen gehen - ist
ein alltaegliches Ritual, dem die Zeit vor Mittag- und Abendessen
gehoert. Da man - insbesondere in den Sommermonaten - sehr spaet zu
essen pflegt, bleiben Stunden fuers tapeo.
Zu Beginn der Mittagspause oder gleich nach Feierabend bildet es den
zwanglosen Rahmen, sich zu treffen, sich zu unterhalten, etwas zu
trinken und nach Lust und Laune verschiedene Kleinigkeiten zu
probieren. Ob es sich nun dabei nur um ein paar Oliven oder um
aufwendige Minigerichte handelt, Essen ist nur ein Aspekt dieser
lebensfrohen Sitte. Manche Tapas-Bars sind beruehmt fuer ihre
umfangreiche Auswahl, andere stuetzen ihre Anziehungskraft auf nur
eine einzige Spezialitaet wie zum Beispiel champinones a la pluncha,
auf der Eisenplatte gebratene Champignons, oder pinchos morunos,
Spiesschen mit mariniertem und gegrilltem Fleisch.
Nun hat Spanien mehr als ein gutes Dutzend regionaler Kuechen mit
starker, eigenstaendiger Praegung zu bieten, die ausnahmslos von der
Verfuegbarkeit der frischen Produkte bestimmt wird. Im Nordwesten
Spaniens, in Galicien, wo die Wiesen gruen sind, gibt es koestliche
Kalbfleischgerichte, die im Sueden, in Andalusien, so gut wie
unbekannt sind. In Asturien, wo das Klima Weinbau nicht zulaesst,
wird sidru, Apfelwein, produziert. Asturien ist auch fuer die fabada,
die rustikale Bohnensuppe, und den Blauschimmelkaese queso cabrules
beruehmt. Das Baskenland gilt als gastronomische Hochburg Spaniens.
Fischsuppen sowie changurro, gerillte Krebse, und anguilas a la
bilbaina, Babyaale in Knoblauchoel, praegen die Fischkueche des
Nordens. Im Sueden, vor allem in Andalusien, sind es Gambas,
Kaisergranat und chanquetes, die kleinen fritierten Fische, die in
Sevilla besser sind als irgendwo anders in Spanien.
Die Generalprobe fuer den kulinarischen Verlauf des Tages beginnt
gegen 13 Uhr. Die ersten Tapas mit einem Fino, einem trockenen und
leichten Sherry, gehen ueber die Theke und werden mit kleinen Gabeln
oder Zahnstochern zu dem Fino verspeist. Dies findet meistens in der
Tapas- Bar an der Ecke statt, die durchaus auch einen kleinen
Restaurantteil haben kann. Diese Mittagstapas sind ein erster
Vorgeschmack auf das zwischen 13.30 und 15 Uhr servierte
Mittagsmenue, la comida, das in der Regel aus drei Gaengen -
Vorspeise, Hauptgang und Dessert - besteht. Die am spaeten Nachmittag
zwischen 17 und 18.30 Uhr plazierte merienda, eine Art Kaffeepause
mit Gebaeck oder Broetchen, geraet in letzter Zeit etwas in
Vergessenheit. Wen wundert das, denn bereits zwischen 20 und 21 Uhr
hat man sich mit Freunden verabredet, um der vormittaeglichen
Tapas-Probe einen fruehabendlichen Tapas-Reigen folgen zu lassen, der
meistens in einem tapeo, einem Tapas-Umzug von Bar zu Bar, endet und
moeglicherweise dazu fuehrt, auf das spaeter avisierte Abendessen, la
cena, das normalerweise um 22 Uhr folgen wuerde, voellig zu
verzichten. Fuer diesen Fall wird man dann jedoch nicht nur Tapas
bestellen, sondern raciones, das sind groessere Portionen von
denselben Tapas, die ueblicherweise als Appetitanreger und als
Vorwand, um einige Finos zu trinken, zu verstehen sind. Das muss
jedoch nicht hinderlich sein fuer den Fall, dass man zu spaeter
Stunde noch in eine Bodega einkehrt, um dann dort doch noch gegen
Mitternacht ein spaetes Nachtmahl zu geniessen. In Spanien scheint es
niemand besonders eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Dennoch sind
am Morgen alle wieder in der Bar an der Ecke zum ersten Kaffee, und
nicht selten ist der tapeo des Vorabends Gespraechsstoff mit dem
Nachbarn.
Uebrigens: Das wichtigste Indiz fuer eine gute Tapas-Bar in Spanien
ist, wenn zur Mittagszeit ein Lieferwagen nach dem anderen vor der
Bar parkt und Fahrer sowie Beifahrer im Lokal verschwinden.